Christian Rainer: profil wird 50
In seltenen Fällen durchbrechen wir die Reihenfolge der Ressorts der Printausgabe dieses Magazins, und noch seltener stellen wir einen Text voran – bevor wir mit Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eintauchen in Innenpolitik, Wirtschaft, Außenpolitik, Gesellschaft, Wissenschaft, Kultur. Der Anlass für eine solche Unordnung in der von uns mit gutem Grund gepflogenen journalistischen Ordnung ist in der Regel ein außergewöhnliches Ereignis – Breaking News.
Auf den folgenden Seiten, noch vor der innenpolitischen Berichterstattung, steht in dieser Woche ein Interview mit Franz Vranitzky. Ein Gespräch mit dem Altkanzler erscheint weder wie ein großer Coup, noch ist inhaltlich Außerordentliches zu erwarten. (Tatsächlich straft Vranitzky diese Erwartungen mit seinen harten Worten über Sebastian Kurz Lügen!) Doch dieser Text markiert sehr wohl ein außergewöhnliches Ereignis. Vor 50 Jahren, im September 1970, erschien die erste Ausgabe von profil. Und dieses Gespräch ist unser erster Baustein, um das große Jubiläum zu begehen.
In den kommenden Monaten werden Woche für Woche Interviews mit Persönlichkeiten folgen, die in besonderer Beziehung zu profil stehen und standen. Im Internet auf profil.at., gelegentlich auch gedruckt respektive im E-Paper werden wir überdies Menschen zu ihren persönlichen profil-Momenten befragen: Leser und Leserinnen, vielleicht Trafikantinnen und Zeitungsausträger, die sprichwörtlichen Frauen und Männer von der Straße. profil-Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen werden über den Sommer hinweg in Videos über ihre besondere Beziehung zu diesem Magazin sprechen. Mitte September erscheint eine Jubiläumsausgabe mit Fortsetzungen in den darauf folgenden Ausgaben.
Entgegen unserer notorischen Lust an Festen müssen wir bei Veranstaltungen Zurückhaltung üben, auch beim Feiern mit Ihnen, unseren Wegbegleitern über Jahre und Jahrzehnte. Da durchkreuzte Corona alle hochfliegenden Pläne. Wir werden redimensionieren: Burgtheater, Hofburg, Schönbrunn gibt es heuer nicht. Es wird in kleinem Rahmen oder spontan gefeiert, zum Teil wird ins nächste Jahr verschoben. Franz Vranitzky im Gespräch mit profil als Kickoff für unser Jubiläum: Das birgt eine höhere Bedeutung. Augenfällig: Von den österreichischen Politikern, die noch für ein Interview zur Verfügung stehen, hat im vergangenen halben Jahrhundert keiner das Land so geprägt wie Vranitzky. Dasselbe würden wir – selbstbewusst angesichts unseres Geburtstages – über profil sagen, wenn wir von den Medien in Österreich sprechen.
Die Parallelen lassen sich noch viel weiter ziehen, um auf diesem Weg die Bedeutung und den Charakter dieser Wochenzeitung zu beschreiben. Bei Vranitzky denken wir einerseits an den technokratischen Manager, der „die Katastrophe der Verstaatlichtenkrise“ (Zitat aus dem Interview) zu bewältigen hatte. Sein journalistischer Widerpart in jenen Jahren war profil mit all der investigativen Kompetenz, die uns zeit unseres Bestehens – von Alfred Worm über Liselotte Palme bis Michael Nikbakhsh – auszeichnet.
Außerdem ist Vranitzky jener Politiker, in dessen Amtsperiode die Aufarbeitung der dunklen Vergangenheit Österreichs endlich einsetzte, mit Kurt Waldheim als Bundespräsidenten und Jörg Haider als FPÖ-Chef. Auf der anderen Seite - und hier eher im Sinne von Vranitzky –stand wiederum profil. Schon die erste Ausgabe im September 1970 beschäftigte sich mit der FPÖ: auf dem Cover ein von Erich Sokol gezeichneter Germanenhelm unter dem Titel „FPÖ zwischen Macht und Pleite“. Kein Zufall deshalb vielleicht, dass Christa Zöchling das Interview mit dem Altkanzler führte. Zöchling ist Haider-Biografin; sie hat wie keine andere Journalistin Ideologie und Umtriebe der Freiheitlichen recherchiert und beschrieben. Und auch in der Causa Waldheim war profil journalistisch maßgeblich aktiv – unter anderem durch die Recherchen von Hubertus Czernin und die Meinungskraft der gesamten Redaktion unter Herausgeber Peter Michael Lingens.
Franz Vranitzky als erster Gesprächspartner beschreibt freilich noch einen weiteren Charakterzug dieses Magazins und seiner Redaktion: unsere Lust an der offenen Auseinandersetzung mit dem, was war, was ist, was sein wird. Vranitzky war nämlich alles andere als ein Freund von profil, als Machtfaktor der Republik kein angenehmes Gegenüber. Das folgende Interview beginnt daher mit der Frage zu einer legendären profil-Titelseite im März 1996: die Fotomontage von Vranitzkys Kopf auf einem nackten Torso. Vranitzky ließ die Ausgabe beschlagnahmen, in der Redaktion gab es Konsequenzen. Heute sieht er die Angelegenheit verklärt: „Ich war persönlich schon sehr betreten. Nach zwei, drei Wochen jaben wir es weggelacht.“
Seither sind 24 Jahre vergangen. Das ist beinahe die Hälfte der Zeit des Bestehens unseres und Ihres Nachrichtenmagazins.
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